Wahn = Sinn

Schizophrene Wahrnehmung in der Kunst der Doris K.

und deren Umsetzung im Roman Panoptes von Duanna Mund

 

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Mediathek zum Projekt:

Interview zum Projekt "Wahn = Sinn" im Rahmen des Kunstprojekts Healing Art / Juni 2021 / Galerie UpTown Art

 

Literarische Sprechstunde Panoptestrilogie  / Radio Helsinki

 

 

Aus dem Nachwort zu "Mond", dem dritten Band der Panoptes-Trilogie:


Im Jahr 2016 starb meine Schwester Doris und hinterließ meiner Mutter und mir ein Zimmer voller Kunstwerke. Ihre dem Ästhetischen verpflichteten Bilder der frühen Jahre waren nach dem Ausbruch einer schizophrenen Persönlichkeitsstörung von einer expressiven, farb- wie formgewaltigen Kunst abgelöst worden. Deren Inhalte verstörten, ja erschreckten. Ein halbes Jahr nach Doris´ Ableben entwickelte sich ein Dialog zwischen ihren Bildern und meinem literarischen Ich. Der erzählende Charakter der Werke erwies sich für Lyrik ungeeignet, mündete in eine Kurzgeschichte und schließlich in die Arbeit an einem Roman. Außerstande, dessen offenen Schluss zu ertragen, machte ich mich an eine Fortsetzung. Diese fand erst im dritten Buch ein Ende, das die Trilogie und meine Fixierung im realen Leben auflöste.

Ich lege großen Wert darauf, eine autobiografische bzw. autotherapeutische Wahrnehmung meines Romans als „Falschnehmung“ zu korrigieren, wenngleich wohl jede Kunst von der Einbeziehung eigener Erfahrungen lebt. Ich räume ein, dass tiefgreifenden Erlebnissen, wie ich sie mit meiner Schwester erfuhr, eine mächtige Inspiration zu künstlerischer Umsetzung innewohnt. So betrachtet rückt jede Art von Literatur in die Nähe der zumindest implizierten Autobiografie, unabhängig davon, wie weit die Fiktionalisierung im Text geht. Auch der therapeutische Ansatz findet sich in der Vorstellung von literarischem Schreiben als Schritt auf dem Weg in Richtung Ganzwerdung. Vom altgriechischen Arzt Hippokrates ist folgende Aussage überliefert: „Für was du Worte hast, darüber bist du schon hinaus.“ Ich halte diese für eine medizinische wie literarische Weisheit mit oder ohne therapeutische Intention. Ersetzt man den Begriff Worte durch Farben und Formen, erlangt der Gedanke auch in den bildenden Künsten Gültigkeit. Tonkünstler transformieren ihre seelische Verfasstheit mit Hilfe von Klängen.

Angesichts der Wechselwirkungen in meinem Schaffensprozess stellt sich die Frage, was woraus schöpfte, das Schreiben aus dem Erleben der künstlerischen Werke oder umgekehrt. Es ist gewissermaßen wie bei der Henne und dem Ei. Indem ich über eine dislozierte Persönlichkeit schrieb, musste ich vergleichbare Wesenszüge in mir zulassen. Die für die Entwicklung des alles sehenden Auges "Panoptes" erforderliche Auseinandersetzung mit schizoider Wahrnehmung verstärkte in mir latent Angelegtes bis in schmerzvolles Erleben. Das Gleiche gilt für weitere im Roman vorkommende Zustände wie Schlaflosigkeit, Angst und triebhaftes Empfinden. Beglückend gestaltete sich die nachempfundene wie selbst generierte Fähigkeit zu Vision und Immanenz, sowie deren gelungene Übertragung in mein literarisches Werk. Die Erzähltechnik des Magischen Realismus´ zwang sich mir förmlich auf.
Die gefrorene Welt der Dichtung und der in ihr enthaltenen Kunstwerke verflüssigt sich im Lesen und Betrachten durch die individuelle Reflexion des Rezipienten und bettet sich in dessen Erfahrungsschatz ein. Kunst zu erfahren ist somit ebenso ein schöpferischer Akt wie Kunst zu schaffen. Die Kraft, die hier wirksam wird, kann, meines Erachtens nach, ebenso als energetische Wesenheit betrachtet werden, wie andere spirituelle Vorstellungen. Die Schöpfung von Literatur, Kunst und Musik wie die Schöpfung im Lesen, Betrachten und Hören verbinden uns mit dem geistigen Prinzip der Kreation. Ihm gegenüber empfinde ich Verantwortung.
Der Roman „Panoptes“ blickt auf viereinhalb Arbeitsjahre zurück und verhält sich gewissermaßen wie die Kunst meiner Schwester, die in ihrer sozialen Isolation unabhängig von gesellschaftlicher Einflussnahme ihr innerstes Wesen ausdrückt. Text wie Bild kommen ohne marketinggerechte Aufbereitung und publikumswirksames Zugeständnis aus. Dafür zeigen sie den blinden Fleck in der gesellschaftlichen Interpretation von Wahn und Sinn. Denn die inspirative Kraft der Kunstwerke führte in eine Fiktion, die sich an den Möglichkeiten orientierte, die das Leben der Künstlerin unter anderen Umständen, in einer menschlichen Gegenwelt genommen haben könnte. Nicht zufällig führt die Symbolkraft des Mondes die Protagonisten zuerst in die Wunderwelt ihrer eigenen Projektion und nach der dort erfolgten Katharsis zum Stern der Transformation. Schmerzlich waren die Restitutionsversuche der Künstlerin im wahren Leben wie die der Protagonistin in meinem literarischen Werk.
Im Zuge meiner umfangreichen Recherche zur Metaebene des Buches stieß ich auf Leo Navratils Erkenntnisse bezüglich der Zusammenhänge zwischen Kunst, Literatur bzw. Religion und erweitertem Bewusstsein. Was heute vielfach als krankhafte Störung gilt, fand der in den 1950er-Jahren in der Nervenheilanstalt Maria-Gugging, Niederösterreich, arbeitende Psychiater auch im gesunden Menschen angelegt, sobald dieser sich in die Kreation begibt. In der Arbeit mit seinen Patienten regte er diese zum Zeichnen an, um den diagnostischen Wert der Bilder zu nützen. Bald erkannte er die künstlerische Qualität vieler der so entstandenen Werke und stellte diese der Kunstwelt vor.
Leo Navratil verdanke ich eine fachkundige Basis für die Deutung der Bilder meiner Schwester als schizophrene Kunst. Das stets frontal eingesetzte Auge, das ähnlich wie bei einem altägyptischen Profil in einer rätselhaften Verschmelzung von Vorder- und Seitenansicht den Betrachter fixiert, wurde zum namengebenden „Panoptes“, das Auge, das alles sieht. Es steht für Schutz wie für Bedrohung, meint den dislozierten Teil der Persönlichkeit und symbolisiert die Kreativität sowie die Verbindung zum Numinosen, Göttlichen, Alpha und Omega, Meer aller Möglichkeiten, wie auch immer man die Sprengung irdischer Gesetzmäßigkeiten tituliert.
Geometrisierte und deformierte Gesichtszüge wie Gestalten verstehen sich als Ausdruck von Beziehungslosigkeit und als Bemühen um die Festigung der Innenwelt. Übermächtige Rahmen boten Schutz gegen wechselnde Wirklichkeiten und halfen verbotene Triebe in Schach zu halten. Manche der Werke duldeten keine Leerräume, als fürchteten sie den „horror vacui“. Janusgesichter, magische Zahlenreihen und bannende Symbole legten eine halbbewusste okkulte Intention der Kunstwerke nahe, ebenso wie deren Neigung, die dargestellten Dinge aufzuklappen, quasi das Dahinter sichtbar zu machen. Verdrehte Perspektiven und fehlende Horizontale erschlossen sich meiner Betrachtung als Ausdruck eines Durcheinander-gewirbelt-seins. Stereotype Gestalten wiesen auf das Archetypische hin, auf Wesenheiten, die sakralen Bereichen entnommen sind und durch das Aufsetzten einer Maske zu Totemtieren, Naturdämonen und Untoten wurden. Kein Wunder also, dass mein Roman sich um einen Mystery-Plot rankt.
Im Rückblick auf das fieberhafte Schaffen während meiner Schreibarbeit erschließt sich mir mein Tun als eine intuitive Gleichschaltung mit dem kreativen Prozess meiner Schwester. Ich verstand, dass ihr künstlerisches Werk sie vor einer Ich-zerstörenden Gewalt rettete. Wo das Ordnungsprinzip verloren gegangen war, musste sie sich ein neues, übergeordnetes schaffen. In meinem persönlichen Zugang wird künstlerische Tätigkeit nicht nur bewusst vom Ich gesteuert, sondern beinhaltet zudem eine Ichfindung als Zwischenetappe. In jedem Fall macht „Wahn“ Sinn in der Bedeutung von „Wähnen“. Das etwas aus der Mode geratene Wort für ahnen, erspüren, vermeinen, wittern, vorhersehen, in Erwägung ziehen weist auf eine erweiterte Sicht auf die Welt hin, auf eine „Krankheit der Phantasie“, die uns heilen könnte. Vielleicht wäre es besser, zumindest phasenweise Werkzeug eines fremden Willens zu sein, als ständig in infantiler Egozentrik um sich selbst zu kreisen. Mit einer dislozierten Sichtweise lässt sich in jedem Fall sagen: „Ich und mein Innenleben – wir sind immer zu zweit.“ Was für ein wunderbares Korrektiv!